Thomas Ribi ist Redaktor im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) und Experte für Kirchenfragen. Er gab im Rahmen einer Tagung der Paulus-Akademie und dem Zentrum für Kirchenleitung an der Universität Zürich eine persönliche Einschätzung zur künftigen Rolle der Kirchen in der  Gesellschaft. Er wünscht sich Kirchen mit mehr Selbstbewusstsein und mutigeren Köpfen.




 
 

Rolle der Kirche in der Gesellschaft

NZZ-Journalist nimmt Stellung

Was erwarte ich von meiner Kirche? Und was erwartet meine Kirche von mir? Erwartet sie etwas? Priester, Gemeindeleiterinnen, Pfarrerinnen und Pfarrer stehen zum Teil Sonntag für Sonntag vor leeren Kirchenbänken. Einzelne reformierte Gemeinden haben keine Konfirmanden mehr. Es fällt zunehmend schwer, Kirchenpflegen zu besetzen. Wo sind die Menschen, die sich eine starke Kirche wünschen, wenn es darum geht, sich selber für die Kirche zu engagieren? Lässt man das Dienstleistungsunternehmen Kirche nur gewähren, weil es vom Kinderhort über den Besuchsdienst für Betagte bis zur Paarberatung eine umfassende Palette von Angeboten für alle Lebenslagen bereithält? Wie lassen sich die Menschen, die der Kirche gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt sind, auch persönlich wieder für die Kirche gewinnen?

Die Frage treibt die Kirchen um. Sie suchen nach Antworten, ziehen aber oft die falschen Schlüsse. Vor allem deshalb, weil die Verunsicherung zu tief sitzt. Das zehrt am Selbstbewusstsein.
Und das brauchen die Kirchen. Gerade jetzt, wo die Mitglieder-Austritte zunehmen und – zumindest auf reformierter Seite – die Erträge empfindlich schwinden. Selbstbewusstsein dürfen sie auch haben. Sie sind nach wie vor Institutionen mit einer hohen Glaubwürdigkeit. Man vertraut ihnen. Und man traut ihnen einiges zu. Nur müssen sie das selber wieder spüren.

Vor allem muss ihnen klar werden, dass sie keine Bittsteller sind. Die Kirche ist kein Unternehmen, das auf Kundenfang ist und sich in allem nach den Wünschen potenzieller Kunden richten muss. Sie muss sich nicht jedem Wehen des Zeitgeistes beugen. Aber sie muss sich ihm auch nicht um jeden Preis in den Weg stellen. Was die Form der Verkündigung betrifft, muss sie nicht in eingefahrenen Gleisen verharren – ob im Gottesdienst ein Paul-Gerhardt-Lied, ein Spiritual oder eine Rockballade gesungen wird, ist eine Frage des Anlasses und des Umfelds, nicht mehr und nicht weniger. Und was die dogmatischen Positionen betrifft, muss sich die Kirche klar werden, dass längst nicht alles unverrückbar ist. Nicht verhandelbar bleiben muss der Kern der Botschaft von Jesus – Barmherzigkeit, Nächstenliebe. Die Positionen der römischen Kirche zur Homosexualität oder zum Umgang mit Wiederverheirateten aber sollten als das erkannt werden, was sie sind: keine christlichen Kernbotschaften, sondern moralische Lehren, die einem Zeitgeist verpflichtet sind, allerdings nicht mehr dem heutigen.


Die Kirche muss sich in mancher Beziehung neu erfinden. Aber sie darf sich nicht verraten. Sie darf sich nicht scheuen, Ansprüche zu stellen. Sie darf von ihren Mitgliedern und ihren Sympathisanten etwas verlangen. Ansprüche stellen muss sie aber auch an sich selber. Und sie muss vor allem eines: die Menschen ernst nehmen. Sie hat es mit selbständigen Menschen zu tun. Und auch wenn sie immer weniger vom Christentum wissen, den Unterschied zwischen Paulus und Petrus vielleicht nicht mehr so genau kennen, und nicht auf Anhieb sagen könnten, was ein Sakrament ist – sie sind kritisch. Und sie reagieren zu Recht empfindlich, wenn sie behandelt werden wie kleine Kinder, denen man nicht zutraut, mit einer christlichen Botschaft fertig zu werden, die in ihrem Kern sperrig ist und uns Menschen viel abverlangt.


Kirche darf nicht zum Wohlfühlraum werden. Sie muss ein Reflexionsraum sein, in dem alles zur Sprache kommen darf. Nur wenn sie die Menschen ernst nimmt, ist Kirche ein verlässlicher Partner, auf den man sich einlässt. Und nur dann kann die Kirche als gesellschaftliche Akteurin ihre Stimme erheben, zur Vernunft rufen, mahnen oder tadeln, wo sie christliche Grundwerte gefährdet sieht. «Hier stehe ich und kann nicht anders! Gott helfe mir, Amen!», soll Luther auf dem Reichstag zu Worms gesagt haben. Dieses Vertrauen ist den Kirchen zu wünschen. Wir brauchen es!


Die ungekürzte Rede gibt es hier.


Beste Grüsse, Markus Baumgartner

 
 
Das DienstagsMAIL ist eine nicht-kommerzielle und kostenlose Dienstleistung für Christen, die ihr Engagement öffentlichkeitswirksamer gestalten wollen. Das DienstagsMAIL wird von einem Kommunikationsprofi in seiner Freizeit verfasst. Die praktischen Tipps sollen mithelfen, dass Christen verstärkt in der Gesellschaft wahr genommen werden.